III Dokmentation und Datensätze

Staaten

Hessen-Kassel (1820-1865)

 

Staatsgebiet

Das Staatsgebiet des Kurfürstentums Hessen, auch Kurhessen oder Hessen-Kassel genannt, befindet sich in Mitteldeutschland. Grenzstaaten des Kurfürstentums sind Hannover, Preußen, Sachsen-Weimar-Eisenach, Bayern, Hessen-Darmstadt, Frankfurt, Nassau und Waldeck. Zu Hessen-Kassel gehören sieben Exklaven verschiedener Größe. Der Distrikt Katzenberg sowie Dorheim liegen in Hessen-Darmstadt, Laubach im Königreich Hannover, die Exklave zu Schaumburg in Schaumburg-Lippe und Barchfeld in Sachsen-Meiningen. Von den beiden größeren Exklaven ist die im Norden gelegene Grafschaft Schaumburg umgeben vom Königreich Hannover, Lippe-Detmold, Schaumburg-Lippe und Preußen. Die im Osten liegende Herrschaft Schmalkalden grenzt an Sachsen-Gotha-Altenburg, Sachsen-Meiningen und Preußen. Hauptstadt, Regierungssitz und Residenz ist Kassel mit der Orangerie und der Sommerresidenz Wilhelmshöhe. 1866 wird Hessen-Kassel von Preußen annektiert.

 

Geographie/Topographie

Für das Gebiet des Kurfürstentums Hessen-Kassel wird in der Bundesmatrikel eine Fläche von 166,24 Quadratmeilen angegeben. Der GIS-Wert beträgt 38.732km² (1820). Das Gebiet des Kurfürstentums ist gebirgig und waldreich. Höchste Erhebung ist mit 916m der Inselberg im schmalkaldischen Teil des Thüringer Waldes. Weitere Gebirge sind das Werragebirge, das Fuldagebirge und der Thüringer Wald. Die Hanauischen Berge hängen mit der Rhön, dem Spessart und dem Vogelsberg zusammen.
In Schaumburg liegen der Süntel, der Deister und der Bückeberg, als Vorgebirge des Harzes. Der Boden ist weitgehend schwer kultivierbar. Fruchtbare Täler befinden sich an der Werra und Lahn. An Flüssen durchziehen die Fulda, die Werra und die aus ihnen entstehende Weser das Land im Norden und Osten. Die südliche Grenze bildet der Main, im Westen durchquert die Lahn das Land. Das Klima der kurhessischen Länder ist gemäßigt, doch wegen der Berge und Wälder eher rau als mild.

 

Geschichte bis 1815/20

Das 913 erstmals erwähnte Kassel wurde vermutlich von den Konradinern gegründet und leitet seinen Namen vom lateinischen "castellum" (Festung, Burg) ab. Im Jahre 1277 wurde es Sitz der Landgrafen von Hessen. Bei der Teilung der Landgrafschaft Hessen 1567 unter Philipp dem Großmütigen (1504-1567) erhielt dessen ältester Sohn, Wilhelm IV., der Weise (1532-1592), etwa die Hälfte Hessens mit Kassel als Residenz. 1583 erwarb er von Hessen-Rheinfels die Niedergrafschaft Katzenelnbogen und gewann 1584 von den Grafen von Henneberg die Herrschaft Schmalkalden hinzu. Nachdem Landgraf Moritz der Gelehrte (1572-1632) zum Calvinismus übergetreten war, kam es zum hessischen Erbfolgestreit zwischen den Linien Hessen-Darmstadt und Hessen-Kassel um die Gebiete Hessen-Marburgs. Im Ergebnis behielt Hessen-Kassel 1648/50 den östlichen Teil Hessen-Marburgs mit Marburg und gewann endgültig das Fürstentum Hersfeld. Zuvor hatte es 1647/48 die Grafschaft Schaumburg erworben. 1736 fiel die Grafschaft Hanau-Münzenberg an Hessen-Kassel. Im Reichsdeputationshauptschluß von 1803 bekam Hessen-Kassel die Kurwürde zugesprochen. 1807 wurde es, da es nicht dem Rheinbund beigetreten war, von Frankreich besetzt und dem Königreich Westphalen mit Kassel als Hauptstadt einverleibt. 1813/15 wurde Hessen-Kassel wiederhergestellt und erhielt das Hochstift und spätere Großherzogtum Fulda als Ersatz für die an Nassau gefallene Niedergrafschaft Katzenelnbogen.

 

Staats- und Regierungsform, Herrscherhaus

Das Kurfürstentum Hessen ist eine Monarchie. 1813 aus dem holsteinischen Exil zurückgekehrt, bemüht sich Wilhelm I. (reg. 1785-1803 Landgraf Wilhelm IX., 1803-1821 Kurfürst Wilhelm I.) auf dem Wiener Kongreß vergeblich, den nach einem germanischen Volksstamm benannten Titel eines "Königs der Chatten" anzunehmen. Da man ihm dies nicht bewilligt, behält er als einziger Fürst den bedeutungslos gewordenen Titel Kurfürst bei und trägt den sonst Königen vorbehaltenen Titel "Königliche Hoheit". Ihm folgt sein Sohn als Kurfürst Wilhelm II. (reg. 1821-1847) nach. Dieser verlässt 1831 Kassel und folgt seiner Mätresse, der Gräfin von Reichenbach, nach Hanau und ernennt seinen Sohn Friedrich Wilhelm I. (reg. 1847-1866) zum Mitregenten. Da Wilhelm II. bis zu seinem Tod 1847 nicht mehr nach Kassel zurückkehrt, führt Friedrich Wilhelm I. de facto seit 1831 allein die Regierung.
Im Zuge von durch die Pariser Julirevolution ausgelösten Unruhen in Kurhessen erneuert Kurfürst Wilhelm II. das 1813 von seinem Vater Wilhelm I. gegebene Verfassungsversprechen. Die am 5. Januar 1831 erlassene "Kurhessische Verfassungsurkunde" trägt ausgesprochen liberale Züge: Sie sieht ein Einkammerparlament mit eigenständiger Gesetzesinitiative und der Anklagepflicht gegen verfassungsbrüchige Ministerialvorstände vor. Hinzu tritt ein Verfassungseid, der den Regenten, alle Staatsbürger, Beamte und Abgeordnete sowie das Militär in die Pflicht nimmt. Das monarchische Prinzip, also der Erhalt der fürstlichen Prärogative, bleibt hingegen unangetastet. Die im Verlauf der Revolution von 1848/49 erlassene Wahlrechtsänderung fällt schnell der Restauration zum Opfer. Die Verfassung von 1852 schließlich revidiert sowohl die Wahlrechtsänderung als auch die Ministeranklagepflicht, Heereseid, Budget- und Gesetzesinitiative. Zudem wird ein Zweikammersystem eingeführt. Die Auseinandersetzungen um die kurhessische Verfassung dauern bis zum Ende des Kurfürstentums an.
Nachdem Hessen-Kassel sich im Deutschen Krieg 1866 auf österreichische Seite gestellt hatte, wird es am 18. Juni von preußischen Truppen besetzt und die kurhessische Regierung suspendiert. Mit dem preußischen Patent vom 3. Oktober 1866 "wegen Besitznahme des vormaligen Kurfürstentums Hessen" endet der kurfürstlich-hessische Staat.

 

Territoriale Aufteilung/Verwaltungsstruktur

Mit dem Organisationsedikt vom 21. August 1821 erfolgt die Einteilung Hessen-Kassels in vier Provinzen, die in etwa die Funktion von Regierungsbezirken haben: Hanau (Regierungssitz Hanau), Oberhessen (Regierungssitz Marburg), Niederhessen mit der Grafschaft Schaumburg (Regierungssitz Kassel) und Fulda mit der Herrschaft Schmalkalden (Regierungssitz Fulda). Von 1849 bis 1851 ist Hessen-Kassel in folgende neun Bezirksdirektionen eingeteilt: Kassel, Eschwege, Hersfeld, Fritzlar, Marburg, Fulda, Hanau, Schmalkalden und Rinteln. Mit Verordnung vom 7. Juli 1851 werden die Bezirksdirektionen wieder abgeschafft und die alte Einteilung in Provinzen wiederhergestellt. Das Ober-Appellationsgericht befindet sich in Kassel.

 

Bevölkerung

Nach der Bundesmatrikel von 1816 hat Hessen-Kassel 567.868 Einwohner. Bis 1866 nimmt die Bevölkerungszahl um mehr als 30% auf 763.200 Einwohner zu. 73% der Bevölkerung leben 1849 auf dem Land. Die Hauptstadt Kassel zählt 1827 an die 25.000 Einwohner, 1847 hat sie sich um fast 40% auf 34.547 erhöht. Die Einwohner Kurhessens sind zum Großteil reformierten und evangelisch-lutherischen Glaubens. Für das Jahr 1858 werden 51% Reformierte, 18% Lutheraner, 14% Unierte (Union der Calvinisten und Protestanten), 15% Katholiken und 2% Juden angegeben.<7p>

 

Wirtschaft

Bodennutzung und Landwirtschaft

Die Landwirtschaft ist der vorrangige Wirtschaftssektor Kurhessens, dem sich auch der 1821 in Kassel gegründete Landwirtschaftsverein widmet. Das wichtigste Produkt neben Getreide ist der Flachs. Der Holzbestand geht weit über den inländischen Bedarf hinaus. Hinsichtlich der Viehzucht nimmt die Schweinezucht den größten Anteil ein.

Bergbau

Im Bergbau werden Silber und Kupfer bei Rotenburg und Frankenberg gewonnen. Die Braunkohleförderung liegt 1850 bei 86.523t und steigert sich bis 1865 auf 161.640t jährlich. Ein Zentrum liegt bei Ahlberg in Niederhessen. Der Steinkohleertrag beläuft sich 1850 auf 83.396t und erreicht 1856 mit 153.307t einen Höchststand. Die wichtigsten Steinkohlebergwerke befinden sich in der Grafschaft Schaumburg. Eisenerz findet sich vor allem in Schmalkalden. Die Förderquote beläuft sich 1850 auf 12.682t pro Jahr und erreicht 1863 einen Höchstwert mit 17.929t.

Gewerbe und Industrie

Hessen-Kassel ist in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kaum industrialisiert. Gewerblicher Schwerpunkt ist die Leinweberei, die vornehmlich in Manufakturen, häufig als Nebenerwerb, betrieben wird. Stahl- und Eisenwaren werden vornehmlich in der Herrschaft Schmalkalden produziert. Die Roheisenproduktion verdoppelt sich von 3.884t im Jahr 1850 auf 8.283t im Jahr 1862. Die Stahlproduktion liegt 1850 bei 2.032t jährlich, verharrt bis 1860 auf gleichbleibender Höhe und sinkt bis 1866 auf 1.529t im Jahr ab. Im Maschinenbau ist das seit 1817 in Kassel aufgebaute Unternehmen von Carl Anton Henschel (1780-1861) hervorzuheben, das 1848 eine erste Lokomotive namens "Drache" für die "Friedrich-Wilhelm-Nordbahn" ausliefert. Bis 1865 baut die Firma 100 weitere Lokomotiven für den expandierenden Eisenbahnbau in Deutschland und Europa.

Handel

Wichtigste Einnahmequelle ist 1820 der Transithandel, da die große Straße von Frankfurt nach Leipzig sowie Verkehrswege nach Franken, Sachsen und Westfalen durch das Land führen. Wichtigste Exportprodukte sind Leinwand und Holz. Importiert werden vornehmlich Kolonialwaren. Mehrmals im Jahr finden in Kassel Wollmärkte statt. 1821 wird in Kassel der Handels- und Gewerbeverein für Kurhessen gegründet

Währung, Maße, Gewichte

Bis 1841 wird in Hessen-Kassel nach Talern Courant zu 32 Albus à 12 Heller, im Anschluß nach Talern zu 30 Silbergroschen à 12 Heller gerechnet. Als Längenmaß besteht der kurhessische Normalfuß. Flächenmaß ist die Kasseler Quadratrute, Handelsgewicht ist der Kasseler Zentner.

 

Verkehr

Kunststraßen/Chausseen

Bis 1843 sind 160 Meilen Chausseen fertiggestellt.

Eisenbahnen

1833 wird in Kassel der "kurhessische Eisenbahnverein" gegründet, aber erst 1845 bei Grebenau im Fuldatal mit dem Bau der ersten Eisenbahnlinie, der nach dem Landesherrn benannten "Kurfürst Friedrich-Wilhelm-Nordbahn" begonnen. Die 1848 fertiggestellte Nordbahn führt von Kassel nach Bebra, Eisenach und Leipzig. 1849 wird sie nach Warburg und Karlshafen, 1853 als Bergisch-Märkische Bahn nach Westfalen weitergeführt. 1852 ist die Main-Weser-Bahn von Kassel über Marburg und Gießen nach Frankfurt am Main fertiggestellt.

Wasserstraßen

Schiffbahre Wasserstraßen in Hessen-Kassel sind die Weser im Norden und der Main im Süden, die 1850 jeweils eine Tragfähigkeit für Schiffe bis zu 199t befördern können. Die Werra ist 1850 für Schiffe bis zu 99t befahrbar. Die Fulda ist für die Schifffahrt kaum geeignet und wird erst in preußischer Zeit zumindest bis Kassel, ausgebaut.

See- und Binnenhäfen

Binnenhäfen befinden sich in Karlshafen an der Weser, in Witzenhausen an der Werra und in Hanau am Main.

 

Kultur und Bildung

Landesuniversität ist die 1527 von Philipp dem Großmütigen (1504-1567) gegründete Philipps-Universität in Marburg, die mit Ausnahme der 1526 bis 1530 im schlesischen Liegnitz bestehenden Universität die weltweit älteste protestantische Hochschule ist. Nach der Verfassung von 1831 unterstehen dem Ministerium des Innern sowohl die Universität Marburg als auch alle anderen Lehranstalten. 1817 wird in Kassel eine Handwerksschule, 1832 eine höhere Gewerbeschule, das Polytechnikum, eingerichtet. Berühmte Chemiker wie Friedrich Wöhler (1800-1882) und Robert Wilhelm Bunsen (1811-1899), Professor in Marburg, geben hier Unterricht.
Mit dem 1779 eröffneten Museum Fridericianum verfügt Kassel über den wohl ersten öffentlichen Museumsbau auf dem europäischen Kontinent. Am Rande des Friedrichsplatzes hatte sich Landgraf Friedrich II. für seine Kunstsammlungen und die Landesbibliothek von Simon Louis du Ry (1726-1799) das frühklassizistische Fridericianum (1769-79) errichten lassen. In der Landesbibliothek arbeiten von 1814 bis 1829 die gebürtigen Hanauer Jacob Grimm (1785-1863) und Wilhelm Grimm (1786-1859) als kurfürstliche Bibliothekare.

 

Zugehörigkeit zu Staatengemeinschaften, Zollsystemen und Zollvereinen

Bei den Verhandlungen zur Gründung des Deutschen Bundes auf dem Wiener Kongress wird Hessen-Kassel durch Staatsminister Dorotheus Ludwig Christian Graf von Keller (1757-1822) und Georg Ferdinand Freiherr von Lepel (1779-1873) vertreten. 1815 tritt Kurhessen dem Deutschen Bund bei. Im Plenum der Bundesversammlung (Bundestag) (Bundestag) führt Hessen-Kassel drei Stimmen, im "Engeren Rat" eine eigene Stimme. Hessen-Kassel ist 1828 Gründungsmitglied des Mitteldeutschen Handelsvereins. Zum 1. Januar 1832 schließt sich Hessen-Kassel mit Ausnahme der Exklaven Schaumburg und Schmalkalden dem Preußisch-Hessischen Zollverein an und wird damit 1834 Gründungsmitglied des Deutschen Zollvereins.

 

Territoriale Entwicklung ab 1866/Kulturerbe

Mit dem Gesetz vom 20. September 1866 wird das Kurfürstentum Hessen mit der preußischen Monarchie vereinigt. Aus Hessen-Kassel und den ebenfalls von Preußen annektierten Gebieten Nassau und Frankfurt sowie dem von Hessen-Darmstadt an Preußen abgetretenen Hessen-Homburg werden zunächst die Regierungsbezirke Kassel und Wiesbaden gebildet. Am 7. Dezember 1868 entsteht aus beiden Regierungsbezirken die preußische Provinz Hessen-Nassau mit Sitz des Oberpräsidenten in Kassel.
Heute ist Kassel Hauptstadt des gleichnamigen Landkreises im Bundesland Hessen. Der Landkreis umfasst 1.293km² und zählt 245.837 Einwohner zum Jahresende 2002. Das Bundessozialgericht hat seinen Sitz in Kassel. Der Name Kurhessen wird nur noch als regionale Bezeichnung weiter verwendet. So ist beispielsweise das alte Territorium Kurhessens einschließlich der Exklave Schmalkalden Bestandteil des Gebietes der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck.
In die ausgebrannte Ruine des Fridericianums zieht 1955 die erste "documenta" ein - eine richtungsweisende Ausstellung moderner Kunst, die inzwischen zu einer periodisch wiederkehrenden Einrichtung geworden ist. Das Schloss Wilhelmshöhe beherbergt heute die Staatlichen Kunstsammlungen mit der Antikensammlung, der graphischen Sammlung und der Gemäldegalerie Alter Meister. Weitere Museen in Kassel sind das Landesmuseum mit bedeutenden Sammlungen zur Astronomie und Physik, das Naturkundemuseum im Ottoneum, einst Deutschlands erstes Theatergebäude, das Tapetenmuseum, das Museum für Sepulkralkultur, die Neue Gemäldegalerie (deutsche Maler) sowie ein Museum, das dem Leben und Werk der Gebrüder Grimm gewidmet ist.

 

Verwendete Literatur