III Dokumentation und Datensätze

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Provinz Westfalen (1820-1914)

 

Gebiet

Die preußische Provinz Westfalen befindet sich in Westdeutschland und bildet mit Ausnahme der zwischen den Fürstentümern Lippe-Detmold und Waldeck gelegenen Exklave Lüdge ein geschlossenes Gebiet. Westfalen grenzt im Norden an das Königreich Hannover, im Nordosten an das Fürstentum Schaumburg-Lippe, die Hessen-Kasseler Exklave Schaumburg und Lippe-Detmold, im Osten an das Herzogtum Braunschweig, Hannover, das Kurfürstentum Hessen-Kassel, Waldeck und das Großherzogtum Hessen-Darmstadt, im Süden an das Herzogtum Nassau und die preußische Provinz Niederrhein sowie im Westen an die preußische Provinz Jülich-Kleve-Berg und die Niederlande. Innerhalb der Provinz Westfalen liegen die Lippe-Detmolder Enklaven Kempen-Grevenhagen, Cappel und Lipperode sowie das von Preußen und Lippe-Detmold gemeinsam verwaltete Kondominat Lippstadt. Hauptstadt und Sitz des Oberpräsidenten ist Münster.

 

Geographie/Topographie

Für die Provinz Westfalen wird 1815 eine Fläche von 368 Quadratmeilen angegeben. Der GIS-Wert beträgt 20.116km². Der südöstliche Teil der Provinz ist gebirgig und wird vom Westerwald, Sauerländischem Gebirge, Haarstrang, Eggegebirge, Teutoburgerwald und Wiehengebirge durchzogen. Höchste Erhebung ist der 827m hohe Astenberg im Sauerländischen Gebirge. Im Nordwesten breitet sich das sehr fruchtbare Westfälische Tiefland mit den Stromberger Hügeln, der Hardt nördlich von Recklinghausen und der Koesfelder Hügelgruppe bei Billerbeck und Horstmar zwischen dem Teutoburgerwald, dem Plateau von Paderborn und dem Haarstrang aus. Rund 30% des Gebietes sind bewaldet.
Die wichtigsten Flüsse sind neben der Weser am östlichen Rand Lahn, Sieg, Wupper, Ruhr, Emscher, Lippe, Issel und Berkel die zum außerhalb der Provinz gelegenen Rhein fließen sowie Vechte und Ems. Das Klima ist im Allgemeinen gemäßigt, rau sind nur die Gebirgsgegenden im Süden der Provinz.

 

Geschichte und Verwaltungsentwicklung

Der Provinzname geht auf das 775 erstmals erwähnte Land Westfalen um Hunte und Ruhr zurück, das 1180 zum Herzogtum mit der Hauptstadt Arnsberg erhoben wurde. Jahrhundertelang in kleine und kleinste Herrschaften zersplittert, bildete Napoleon I. 1807 aus den westfälischen Gebieten sowie Braunschweig, dem Großteil Hessen-Kassels und Teilen Hannovers das Königreich Westphalen, das von seinem Bruder Jérôme regiert wurde und Kassel zur Hauptstadt hatte. Die preußische Provinz Westfalen wird am 30. April 1815 gebildet aus dem Herzogtum Westfalen und Engern, dem Fürstentum Minden, der Grafschaft Tecklenburg Solmsschen Anteils, den Grafschaften Lingen und Ravensberg, dem größten Teil des Hochstifts Münster, den Fürstentümern Paderborn und Corvey und der Stadt Dortmund, der Grafschaft Mark, dem Fürstentum Siegen, dem Amt Reckenberg sowie den mediatisierten Fürstentümern, Graf- und Herrschaften Salm-Ahaus, Salm-Bocholt, Rheina-Wolbeck, Salm-Horstmar, Rietberg, Rheda, Anholt, Dülmen, Gehmen, Bentheim, Steinfurt und dem Solmsschen Amt Neukirchen. 1817 tritt das Großherzogtum Hessen-Darmstadt die Grafschaften Wittgenstein-Wittgenstein und Wittgenstein-Berleburg an Preußen ab, das sie in die Provinz Westfalen eingliedert. Zeitgleich geht der Kreis Siegen von der Provinz Niederrhein zur Provinz Westfalen über. 1851 kommt das bis dahin gemeinsam mit Lippe-Detmold verwaltete Kondominat Lippstadt hinzu. Die Provinz Westfalen gliedert sich in die drei Regierungsbezirke Münster, Minden und Arnsberg. Ab 1824 besteht ein Provinziallandtag, der sich aus Angehörigen der vormals reichsständischen Häuser, aus der Ritterschaft, aus den Vertretern der Städte und der übrigen Grundbesitzer zusammensetzt und 71 Mitglieder zählt.

 

Bevölkerung/Wirtschaft/Verkehr

Im Jahr 1820 liegt die Einwohnerzahl der Provinz Westfalen bei 1.108.548. Bis 1850 steigert sie sich um 34% auf 1.483.338. Im Jahre 1905 hat sich die Einwohnerzahl mit 3.618.090 fast verdreifacht.

Die wichtigsten Wirtschaftszweige der Provinz sind Landwirtschaft und Bergbau.
In der Landwirtschaft liegt der Schwerpunkt im Roggen- und Kartoffelanbau sowie in der Viehzucht. Nach der Viehzählung von 1906 hat die Provinz 160.390 Pferde, 713.029 Rinder, 175.403 Schafe, 1.328.938 Schweine und 221.386 Ziegen. Berühmt ist der Westfälische Schinken.
Der Bergbau ist vornehmlich im Südwesten Westfalens angesiedelt: Das Ruhrkohlerevier gehört zu den ertragreichsten Steinkohlenvorkommen des Deutschen Reichs, an Eisenerz liefert Westfalen von allen preußischen Provinzen die höchste Fördermenge. Der Steinkohlenabbau liegt 1850 bei 941.799t und steigert sich bis 1905 auf 45.854.603t. 1850 werden 79.994t Eisenerz abgebaut, 1905 liegt der Abbau mit 1.145.537t bei mehr als dem zehnfachen Wert. An Rohstoffen werden zudem bedeutende Mengen Zink-, Kupfer-, Blei-, Nickel- und Antimonerze gewonnen.
Haupterwerbszweige der Provinz sind des Weiteren Eisenverhüttung, Textilherstellung, Maschinenbau und Metallwarenfabrikation. Die Roheisenverarbeitung beläuft sich im Jahre 1850 auf 32.845t und erreicht 1911 einen Höchstwert mit 2.750.244t. Die Stahlproduktion liegt 1850 bei 45.369t und steigert sich bis 1911 auf 3.316.472t.
Hinsichtlich der Textilindustrie sind besonders die Leine- und Baumwollweberei hervorzuheben: 1840 sind 4.667 Webstühle in der gewerblichen Baumwollweberei und 5.411 in der gewerblichen Leineweberei in Betrieb. Die Leineweberei ist vornehmlich in den Kreisen Bielefeld, Herford und Warendorf und die Baumwollindustrie in der westlichen Hälfte des Regierungsbezirks Münster angesiedelt. Wichtige Handelsstädte sind Bielefeld, Dortmund und Iserlohn.

Die Provinz Westfalen verfügt über ein dichtes Verkehrsnetz: Als erste Städte werden 1847 Dortmund, Hamm, Bielefeld und Minden an die preußische Eisenbahn angebunden. 1905/06 umfasst das Bahnnetz 3.039,6km Vollspureisenbahnen und 326,7km Klein- und Straßenbahnen. Schiffbare Flüsse sind Weser, Ems, Ruhr und Lippe, dazu kommen seit 1870 umfangreiche Kanalbauvorhaben. Wichtige Häfen sind Minden an der Weser sowie Münster und Dortmund am 1903 fertig gestellten Dortmund-Emskanal.

 

Kultur und Bildung

Die Provinz Westfalen macht sich in der ersten Jahrhunderthälfte mit der Reform der Volksschullehrerbildung durch den münsterischen Konsistorialrat Ludwig Natorp (1774-1846) einen Namen. Mit der Entwicklung und Organisation der organisatorisch selbständigen, wissenschaftlich und pädagogisch ausgerichteten Lehrerausbildung in Westfalen wird er zum Begründer des preußischen Lehrerseminars. Nach Gründung der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn im Jahre 1818 wird die Paderborner Universität geschlossen und die Universität in Münster unter Aufhebung der juristischen und der medizinischen Fakultät in eine Theologisch-Philosophische Lehranstalt, seit 1843 "Königliche Theologische und Philosophische Akademie", umgewandelt. Erst 1902 erhält Westfalen wieder eine Landesuniversität, als die Münsterer Akademie um eine juristisch-staatswissenschaftliche Fakultät erweitert und in den Rang einer Universität erhoben wird.
Die bedeutendste Schriftstellerin der ersten Jahrhunderthälfte ist die aus altwestfälisch- katholischem Adel stammende Annette von Droste-Hülshoff (1797-1848). 1842 erscheint mit der "Judenbuche" ihr bekanntestes Werk; es trägt den Untertitel "Ein Sittengemälde aus dem gebirgichten Westfalen." Der Lippische Lyriker Ferdinand Freiligrath (1810-1876) erhält nach Veröffentlichung des "malerischen und romantischen Westphalen" ab 1842 ein Ehrengehalt des preußischen Königs, auf das er 1844 aus politischen Gründen verzichtet und sich fortan - vornehmlich im Exil - ganz dem politischen Kampf für die Verwirklichung der Demokratie widmet. 1824 wird in Paderborn und 1825 in Münster der bis heute existierende "Verein für Geschichte und Altertumskunde Westfalens" gegründet.
Mit der Gründung des Folkwangmuseums 1902 macht der Hagener Kaufmann und Mitbegründer des Deutschen Werkbunds Karl Ernst Osthaus (1874-1921) seine Heimatstadt zu einem bedeutenden Zentrum moderner Kunst. Auf Einladung von Osthaus lehrt der Maler Christian Rohlfs (1849-1938) von 1901 bis 1911 als Expressionist an der angegliederten Folkwangschule. Seit 1922 ist das Folkwangmuseum in Essen angesiedelt.

 

Territoriale Entwicklung ab 1914/Kulturerbe

Die preußische Provinz Westfalen bleibt nahezu unverändert bis 1946 bestehen. Von Januar 1923 bis Juli/August 1925 ist der westfälische Teil des Ruhrgebiets ebenso wie Teile der Rheinprovinz wegen rückständiger Reparationszahlungen von französischen und belgischen Truppen besetzt. Der von der Reichsregierung und den Gewerkschaften unterstützte passive Widerstand führt unter anderem zur Inflation und muss im September 1923 abgebrochen werden.
Nach Ende des zweiten Weltkriegs gehört Westfalen zur Britischen Besatzungszone und wird am 23. August 1946 zusammen mit Teilen der preußischen Rheinprovinz in das neugebildete Land Nordrhein-Westfalen eingegliedert, zu dem ab 1947 auch Lippe gehört, und das seit 1949 Bundesland der Bundesrepublik Deutschland ist.
Das ehemalige fürstbischöfliche Residenzschloss in Münster brennt 1945 vollständig aus und wird bis 1954 als Hauptgebäude der Universität Münster in seiner äußeren Form originalgetreu wieder aufgebaut. In Münster besteht seit 1908 das Westfälische Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte. Träger ist heute der 1953 gegründete Landschaftsverband Westfalen-Lippe, der die preußische Tradition kommunaler Selbstverwaltung, wie sie bei den Westfälischen Provinzialständen existierte, fortführt. Im Zuge des Strukturwandels im früher durch den Bergbau geprägten Ruhrgebiet werden zahlreiche Industriedenkmäler einer kulturellen Nutzung zugeführt: So ist die 1902 für eine Gewerbeausstellung erbaute und anschließend als Gebläsemaschinenhalle genutzte Bochumer "Jahrhunderthalle" heute ein Standort der 2002 begründeten RuhrTriennale, und die Zentralkokerei Hansa in Dortmund ist heute Sitz der Stiftung Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur des Landes Nordrhein-Westfalen. An acht verschiedenen Standorten erinnert das dezentrale Westfälische Industriemuseum an die für die Region wichtigen Branchen Bergbau, Eisenverhüttung, Binnenschifffahrt, Textilindustrie, Ziegeleiwesen und Glasherstellung.

 

Verwendete Literatur